JURTENBAU IN KYZYL TUUS GÄRTEN

Es ist Sonntag, der 8. Juli. Heute geht es von den Bergen an den See. Gegen Mittag bringen uns Gulira und Milan vom CBT-Office im kilometerlangen Naryn zum Sammeltaxi-Stand. Ohne viel Umschweife macht Gulira uns eine Mitfahrgelegenheit nach Balyktschy am Issyk Kul für 700 SOM klar. Eigentlich wollen wir von dort aus noch weiter nach Kyzyl Tuu am Südufer des Sees. Aber jetzt schaun wir mal … Unsere schwarze Karosse schaut auf jeden Fall für hiesige Verhältnisse nicht schlecht aus, der junge, muskulöse Fahrer im weißen, brustoffenen Hemd auch nicht.

Dieser Meinung ist sicher auch seine Frau, die am Ortsrand von Naryn noch zusteigt – linksseitig, denn unser Auto hat das Lenkrad rechts. Von innen betrachtet ist dies nicht das einzige Manko. Stecker für die Gurte sind – oh welch ein Wunder – zwar vorhanden, allerdings sind die Gurte selbst defekt, es fehlen etliche Schalter und Knöpfe, u.a. die für die etwas eigenwilligen hinteren Fenster.

Aber was macht das schon? Unser Fahrer ist super nett, lässt uns von vorne die hinteren Fenster runter zum Fotografieren, fragt, ob der Wind nicht unangenehm ist und versucht sich im Small-talk, der allerdings wegen der Verständigungsproblematik wirklich small bleibt.

Wir sind guter Dinge, bis wir nach etwa einer halben Stunde Fahrt an einem Kiosk halten. Ein anderer junger Mann schaut zum Autofenster rein, parliert ein paar Worte Englisch und verweist stolz auf seinen deutschen Audi. Zuerst denken wir, dass wir zur Weiterfahrt weitergereicht werden, aber dem ist nicht so. Der fahrbare Untersatz ändert sich nicht, dafür aber die Fahrweise unseres feschen Fahrers. Aus gemütlichen 80 km/h werden schlagartig 160 km/h. Das wäre an und für sich nicht das Problem, aber wir fahren …

  • über einen eher kurvigen Gebirgspass
  • auf einer nur zweispurigen Straße, auf welcher er am liebsten links fährt, weil er da auf seinem rechten Fahrerplatz den besten Überblick hat
  • und auf welcher sich immer wieder Pferde, Kühe und Schafe die Beine vertreten oder ein Schläfchen halten
  • und uns genauso verrückte Fahrer entgegen kommen

Was folgt ist eine 1 1/2 stündige Horrorfahrt, die schlimmer wird, je öfter Lea und ich im Heck juchzen und greischen. Unser einziger seelischer Sicherheits-Airbag ist die immer noch völlig entspannt dreinschauende Ehefrau auf dem für Überholmanöver sichttechnisch optimaleren Beifahrersitz. Der Möchtegern-Michael Schumacher brettert drauf los, was der Kübel hergibt, und liefert sich mit dem stolzen Audi-Piloten ein ordentliches Rennen, in dem sie sich abwechselnd in die Pool-Position manövrieren … ungebremst vorbei an aufgeschreckten Vierbeinern und frontal auf Augenhöhe mit dem Gegenverkehr. Der anfängliche Benzingeruch in unserem Transportmittel wird schon längst von unserem Angstschweiß überdeckt.

Mein Gott, was sind wir froh, als sich kurz vorm Orto Tokoy Stausee die Straßenverhältnisse zu unseren Gunsten ändern. Zum Glück müssen wir die verbleibende Fahrzeit auf holprigem, schlaglöchergespicktem Untergrund bewerkstelligen. Man kann sich also auch über vermeintlich schlechte Umstände freuen!

Um 14.45 Uhr fahren wir in Balyktschy ein. Lea und ich sind platt, schließlich haben wir seit unserem morgendlichen Start nahe dem Kel Suu See bereits einige aufregende Kilometer zurückgelegt. Die Außenbezirke von Balyktschy erscheinen uns schon aus dem Auto heraus sehr wuselig. Zwei ausreichende Gründe, um ein offenes Ohr für horrent überzogene Angebote zu haben. Die beiden Devil-Driver reden mehrsprachig auf uns ein. Der Kumpel mit dem weißen Auto bietet an, uns nach Kyzyl Tuu zu fahren – 1 Stunde Fahrt für stolze 1500 SOM. Via Google Maps machen wir ihm klar, dass das fast nur ein Katzensprung ist und somit völlig überteuert. Bei 1000 immer noch „teuren“ SOM schlagen wir ein. Wir wollen einfach nur ankommen. Eine Unterkunft und Essen brauchen wir ja auch noch.

Also schichten wir unser Hab und Gut von der schwarzen in die weiße Rennsemmel und unser neuer Fahrer zückt geschwind  das offizielle Taxi-Dachschild aus dem Kofferraum. Wir können den Sinn dieser Aktion nicht ganz nachvollziehen, zumal das Taxizeichen kurz vor einer Polizeistreife wieder in der Versenkung verschwindet. Auf unserer Weiterfahrt nach Kyzyl Tuu gelingt uns dank Co-Pilot und Google-Translator ein relativ reger Gedankenaustausch, währenddessen uns u.a. der „deutschsprechende“ Bruder des Co-Piloten als Guide für unsere weitere Reise durch Kirgistan angeboten wird. Dankend lehnen wir ab, wohingegen wir das geschenkte Kirgistan-Fähnchen gerne annehmen.

Wie im Flug vergeht die Fahrt an der südlichen Küstenstraße, die mal näher, mal weiter weg vom Ufer des Issyk Kul verläuft. Die Landschaft ist hier noch immer karg, trocken und baumlos, aber die Strände und Buchten sehen schon verlockend aus.

Um 15.45 Uhr haben wir unser Ziel erreicht: Kyzyl Tuu, das Zentrum des kirgisischen Jurtebaus und Station jeder organisierten Rundreise. Als solches aus unserer aktuellen Perspektive nicht wirklich zu erkennen … wir sehen abseits der Durchfahrtsstraße nur ein paar wenige armselige Häuschen, dafür umso mehr Taxifahrer, die auf Arbeit warten. Oha, ob wir hier so spontan ein Bett für die Nacht finden? Wir interviewen ein tchechisches Paar, das gerade aus der anderen Richtung angereist ist. Doch die beiden sind autark mit Zelt unterwegs und wollen zum nahegelegenen Salzsee.

Alle Taxler umschwirren uns wie die Fliegen das Honigbrot und so treffen wir wieder einmal eine Entscheidung nach Sympathie. Die Wahl ist nicht schlecht: durch das große Einfahrtstor von Kyzyl Tuu (Anmerkung der Redaktion: Die Wichtigkeit von mächtigen Toren zum eigenen Anwesen wird uns während unserer Reise noch zu Genüge vor Augen geführt.) bringt uns der junge Bursche zum Gästehaus Nuu. Freudig und beruhigt nehmen wir in der Abgeschiedenheit der staubigen Straßen dieses 1800 Seelen-Dörfchens das CBT-Schild am großen Hoftor zur Kenntnis. 340 km waren wir heute unterwegs von der Kel Suu (3000 m)Hochebene nach Kyzyl Tuu (1700 m).

Hinter dem obligatorischen Tor erwarten uns trotz unserer überraschenden Anreise lächelnde Familien-Gesichter. Das Familienoberhaupt Kayirbek, die gutmütig-verschmitzt dreinschauende Mama Dinara, die in Bishkek studierende und als einzige Englisch sprechende Elnura, der zurückgezogene große Bruder Eleman und mein kleiner Liebling Elmurat, den ich mit seinem spitzbübischen Gesicht sofort ins Herz geschlossen habe. (Anmerkung: Also ich will nicht den falschen Eindruck erwecken, mit meinem miserablen Namensgedächnis je fähig zu sein, mir all diese manchmal sehr ähnlich klingenden Vornamen merken zu können.  Elnura war so lieb und hat sie mir notiert.)

Genauso warm und heimelig wie unser Willkommen ist auch das Anwesen mit einem wunderschönen Obstbaum-Garten, einer schattigen Laube, offener Jurte-Werkstatt und freilaufenden Hühnern. Lea und ich fühlen uns sofort zuhause und in mir werden Erinnerungen an die Kindheit wach, als es bei Oma und Opa auch noch so aussah. Eigentlich gar nicht mal sooo lange her.

Natürlich wird das Empfangszeremoniell mit einer Einladung zum Chai gekrönt – und alle versammeln sich im sattgrünen Garten unter der DIY-Laube. Die Schwester von Mama Dinara kommt auf einen Plausch vorbei und auch die Nachbarin ist neugierig auf den Besuch aus dem Ausland. Obwohl wir kein Wort verstehen und nur wenige Sätze dank Elnura austauschen können, ist die Atmosphäre so eine alltäglich-herzliche, dass Lea und ich nur noch ganz glücklich vor uns hin schmunzeln und die Teepause mit unserer Kurzzeit-Familie ganz intensiv genießen.

Dann muss jeder wieder an die Arbeit und wir unter die Dusche. Während der Papa das Holz hackt und den Ofen für das warme „Duschwasser“ einschürt, beziehen wir unser Zimmer.

Übrigens sind viele der privaten Anwesen in den kirgisischen Dörfern gleich aufgebaut. Mächtig wichtig ist, wie schon erwähnt, die Mauer und das (oft türkisblaue) Einfahrtstor zur Straße hin. Tritt man ein, dann stehen links und rechts vom Hof jeweils die Gebäude: in einem Trakt die große Familienküche, Haushaltsräume und vielleicht die Werkstatt. Im gegenüber liegenden Teil die Aufenthalts- und Schlafräume. Nachdem stets alle Zimmer unverschlossen sind, können wir es uns nicht verkneifen, hier und da einen Blick reinzuwerfen. Die Einrichtung ist eher spartanisch und sehr lückenhaft. Schaut ganz so aus, als bevorzugten die sesshaft gewordenen Nomaden noch immer das bodennahe Essen und Schlafen.
Der mittige Hof geht über in den Garten, in dem – manchmal auch etwas versteckt – das Plumpsklo, ggf. die Dusche und der Hühnerstall zu finden sind.

Der kleine Elmurat lädt mich ein zum Hasenfüttern und nimmt mich mit in den hinteren Garten. Es ist wie eine Zeitreise für mich, so sehr ähneln die Bilder hier meinen Kindheitserinnerungen im Kopf! Im grünen, überwuchernden Obstbaum- und Wiesendickicht steht Gerümpel kreuz und  quer, ausgebleicht, verrostet, zugewachsen,  windschiefe Zäune schlängeln sich einvernehmlich mit den Schlingpflanzen dahin, wild zusammengenagelte  Kleintiergehege trotzen der Schwerkraft und die Insassen darin schauen rundum glücklich aus. Elmurat und ich verstehen uns von Herzen, ganz ohne zu reden. Ich freue mich über seine Einladung und er sich über den Sticker mit seinem Foto, den ich ihm schenke.

Derweil ist der Ofen eingeheizt und Lea und ich betreten gespannt das kirgisische Badezimmer, welches bei unseren Gastgebern gar nicht mal so klein ausfällt. Links vom Umkleidebereich die Kaltwasserdusche schaut aus wie bei uns. Rechts vom Flur die Warmwasserdusche ist eigentlich gar keine Dusche,  sondern ein Ofen und am Ende der Wasserleitung in niedrigen 50 cm Höhe ein Hahn. Mit den bereitliegenden Schöpfkellen ergibt sich damit eher ein suboptimales Duscherlebnis, aber fürs Wäschewaschen ist die Installation ideal.

Frisch und wohlig sauber haben wir vorm Abendessen noch Zeit, die Gerätschaften für den Jurtebau zu inspizieren und einen Rundgang durch das kleine Kyzyl Tuu zu unternehmen. Wie schon zu Anfang erwähnt, befinden wir uns in der Hochburg des kirgisischen Jurtebaus. Nahezu alle traditionellen Jurten Kirgistans werden hier hergestellt und inzwischen auch rege exportiert. Zu erkennen ist diese vom Vater an den Sohn weitergegebene Tradition beim Schlendern durch die staubigen Sträßchen nicht. Das Handwerk spielt sich wohl wie bei unserer Familie ausschließlich hinter den verschlossenen Toren und Mauern ab und der Verkauf geschieht über Mundpropaganda.

Beim späteren Abendessen erzählt uns Elnura ein bisschen was über den Jurtebau. Ihr Bruder Eleman ist eher etwas verklemmt und schon den ganzen Nachmittag mit der Reparatur seines Autos beschäftigt. Wir lernen, dass für den Jurtebau das leichte Holz der Pappel verwendet wird. Die Stangen für das Dachgewölbe werden zurecht geschnitten, geschält und anschließend für kurze Zeit in Wasser getaucht, welches befeuert wird. Danach wird das leichte Holz in eine Formmaschine gespannt.


Die raffiniert ausziehbaren Gitterwände der Jurte (kerege) aus Weiden-, Birken- oder Pappelholz werden beginnend beim Türrahmen im Kreis aufgestellt und mit Knoten aus Tierhaut zusammengehalten. Um diese Scherengitter werden Bastmatten aus Steppengras (Tschij) gelegt und als äußere Schicht der dicke, graue Filzstoff, von dem die Jurte auch ihren kirgisischen Namen hat: graues Heim oder Haus (bos uj). Die Größe einer Jurte wird mit dem Durchmesser – von  den Jurtenbaumeistern aber lieber mit der Anzahl der Dachstangen-Löcher im zentralen Dachkranz (Tündük) – angegeben. Durch die schöne Krone kommt nicht nur Luft und Sonne herein, er ist für die Kirgisen auch Sinnbild für die Öffnung zur Welt und das endlose Universum. Zusammen mit den Dachstreben verdeutlicht das Jurtendach die Einheit der (kirgisischen) Völker. Kein Wunder, dass dieses traditions- und symbolträchtige Tündük auch in stilisierter Form auf der kirgisischen Flagge zu sehen ist. Auch hier symbolisieren die 40 Strahlen der Sonne um das Jurtendach die Vereinigung der 40 kirgisischen Stämme, die der Legende nach dem Nationalhelden Manas zugeschrieben wird. Das Manas-Epos umfasst mehrere hundertausend Verse, die noch heute von Erzählern (Manastschy) vorgetragen werden- z.B. bei den alle zwei Jahre stattfindenden World Nomad Games. Der farbenfrohen Ausschmückung der Jurten mit Bändern, Bommelketten und Shyrdaks sind nahezu keine Grenzen gesetzt. Aber egal ob in der einfachen Schäfer-Jurte oder in der Festtags-Jurte – man fühlt sich immer daheim und wohlbehütet!

Aber genauso fühlen wir uns auch hier im Gästehaus Nuu. Bei Kerzenschein lassen wir uns gegen 20 Uhr das Kuurdak (Eintopf mit Kohl, Kartoffeln, Zwiebeln, Fleisch) in der Gartenlaube schmecken. Nur Elnura leistet uns Gesellschaft, denn die Eltern erwarten später noch eigenen Besuch zum Essen. Noch später?! Ja, es ist durchaus üblich und normal, dass sich Familie und Gäste erst spät abends, um nicht zu sagen, nachts zum Essen versammeln. In der guten Stube ist schon der Tisch eingedeckt.

Aber bei Lea und mir sind nicht nur die Akkus der technischen Geräte leer, sondern auch die eigenen und wir schleichen müde in unsere Betten.

 

3 Gedanken zu “JURTENBAU IN KYZYL TUUS GÄRTEN

  1. Elfriede schreibt:
    Avatar von Elfriede

    Liebe Andrea
    Es ist einfach so spannend deinem Block zu folgen. Wie schön du alles in Worten beschreiben und wiedergeben kannst. Danke dafür dass wir so an deinen Elebnissen teilhaben dürfen🙋🏻

  2. Werner Meier schreibt:
    Avatar von Werner Meier

    Toller Bericht, schöne Geschichte, super geschrieben. Man reist mit und möchte weiterlesen
    LG
    Werner

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