Am Freitag, den 14.02.2020, geht meine Reise weiter Richtung Süden. Auf dem Weg ins Eje cafetero möchte ich noch einen ländlichen Zwischenstopp in Jardín einlegen. Jardín liegt etwas abseits des direkten Weges, aber ich hege die Hoffnung, dass dieses kleine Pueblo diesen Abstecher wert ist. Das Busticket habe ich ja zum Glück schon. Jetzt stellt sich die Frage: Wie komme ich pünktlich zur Abfahrt um 8.50 Uhr zum Terminal del Sur? Die Rome2Rio-App sagt mir, mit Metro und zu Fuß wäre ich eine knappe Stunde unterwegs. Mmh, da sollte ich doch mindestens noch ½ Stunde Puffer und eine ½ Stunde für Unwegsamkeiten im werktäglichen Berufsverkehr einplanen. Zum ersten Mal seit einer Woche hieve ich mein großes Backpack auf die Schultern und schnalle mir den Tagesrucksack vor die Brust. Handy, Geld, Ticket … alles an der Frau. Dann kann es ja losgehen.
Ich steige zur Metro hoch für die Fahrt in die Innenstadt – OHA! Das schaut aber gar nicht gut aus! Mit leichtem Entsetzen überschlage ich meinen aktuellen Platzbedarf mit ca. 1,2 m² und schaue auf die plattgedrückten Gesichter an den Einlasstüren der einfahrenden Zugwagons. No chance! Auch meine Hoffnung, auf den nächsten Zug aufspringen zu können, zerplatzt schon beim Hinschauen wie eine Seifenblase. Die Zeit läuft … also Bahnsteig runter und auf der anderen Seite wieder hoch. Das Spielchen kenne ich ja schon. Ich fahre ziemlich weit nach draußen, bis sich die Menschenmengen in den stadteinwärts-fahrenden Zügen so lichten, dass ich doch zumindest mit Sack und Pack einsteigen kann. 45 Minuten sind seit meinem Abmarsch am Hostel schon mal um, eine weitere halbe Stunde brauche ich bis zur Estación Poblado. Danach schnell ins Taxi und im Eilschritt durch das riesige Terminal del Sur … Puh! Geschafft, mir bleiben noch 15 Minuten bis zur Abfahrt.
Die 4-stündige Fahrt ist etwas überschattet von der Sorge um die für das kommende Wochenende angekündigten Demonstrationen der Guerilla-Gruppe ELN (Nationale Befreiungsarmee), die gerade auf dem Land auch mal gewalttätig ausarten können. Mein Sitznachbar, ein älterer, sehr gepflegter Herr, und ich hoffen, dass wir an diesem Freitag noch unbehelligt nach Jardín kommen. Der Señor reist eigens für einen Gottesdienst seiner Glaubensgemeinschaft dorthin. 4 Stunden Fahrzeit auf holprigen Straßen über die Cordillera Occidental mit Schlaglöchern und Serpentinen, nur um vor Ort gemeinsam zu beten, wäre jetzt nicht so meins. Aber mein angenehmer Zufallsreisegefährte erzählt mir nebenbei von Land und Leuten, zeigt mir den Cerro Bravo und die spitze Pyramide des Cerro Tusa … In Bolomboló im Distrikt Venecia machen wir zum ersten Mal Rast und werden kurz nach dem Ort erneut angehalten: Razzia – alle Männer müssen aus dem Bus aussteigen und ihre Papiere herzeigen. Entlang des Río Cauca und des Río Pedral geht es weiter über Hispania und Andes Richtung Jardín. Erste Kaffeeplantagen steil wie Weinberge kleben an den Berghängen. Um 13 Uhr erreichen wir unser Ziel.
Im Örtchen ist es noch ganz ruhig und ob der „kühlen“ Temperaturen und des verhangenen Himmels, sind auch die einladenden Stühle auf der Plaza Mayor noch unbesetzt. Aber das wird sich zum Wochenende ändern.



Nach einem kurzen Rundumblick steuere ich meine Bleibe, das Hostel Juanes, an. Lorena, die neue Chefin, empfängt mich. Sie hat das Hostel erst vor einer Woche übernommen. Noch ist nicht alles eingespielt, aber Lorena ist sehr liebenswert und fürsorglich. Ich beziehe mein großes Einzelbett-Zimmer, alles ist einfach, aber sehr geräumig und sauber.




Nach einer erfrischenden Dusche begebe ich mich auf Entdeckungstour. Oberstes Ziel hier in Jardín ist der „Jardín de las Rocas“, übersetzt der „Garten der Andenfelsenhähne“. Der Gallito de las Rocas ist der Nationalvogel Perus. Auf ihn zu treffen hatte ich eigentlich während meiner Peru-Reise 2017 erhofft. Doch dort huschte lediglich ein fliegendes Exemplar an mir vorbei. In Jardín hätte ich nun wohl die Chance, diesen seltsamen, knallrotorangenen Vogel doch noch persönlich kennenzulernen. Google-Maps und auch der Mini-Ortsplan besagen, dass der Jardín am Ortsende von Jardín liegt, vor der Brücke, die den kleinen Fluss überspannt.


Am großen Holztor steht geschrieben, dass die beste Zeit zum Beobachten der männlichen Felsenhähne der frühe Morgen oder der Abend ab 17 Uhr ist. Bis dahin habe ich ja noch ein bisschen Zeit und nehme das Pueblo genauer unter die Lupe, streife durch die Straßen,








werfe einen Blick in den Innenhof des Hotel Jardín an der Plaza,



besichtige die gewaltige Kirche



und gönne mir einen Kaffee auf der Plaza. Genau mein Ding: Sitzen, genießen und Menschen beobachten! Auch die altmodischen Porzellantassen-Sammlungen haben was.









Ist doch geil, wie die Kolumbianer so lässig auf den gekippten Stühlen abhängen?! Wer bestellen oder bezahlen möchte, klatscht einfach in die Hände.
In einer Seitenstraße zur Plaza buche ich für den nächsten Tag eine Tour zur Cueva de Esplendor auf 2.300 m. Und pünktlich um 17 Uhr stehe ich erneut vorm Tor des Jardín de las Rocas. Auf mein Klingen öffnet mir die Dame des Gartens die Tür, ich zahle meinen Obolus und sie führt mich durch den kleinen Garten zu den Beobachtungsplattformen. Und tatsächlich! In den Bäumen, die hier vom Flussufer hoch gen Himmel wachsen, tummeln sich ganze Gruppen von Gallitos! WOW! Was für eine Freude! Ich lege mich auf die Pirsch, beobachte die seltsamen Gestalten mit den Federkämmen bis zum Schnabel und lausche dem zugegebenermaßen eher unschönen Gekreische. Die egozentrischen Herren der Schöpfung sind Einzelgänger und versammeln sich nur für die Nacht hier. Die Weibchen im schlichten orange-braunen Gewand kümmern sich derweil andernorts alleine um den Nachwuchs.






Diesen Ausstoß an Glückshormonen lasse ich an der Plaza mit zwei Colombia Negra noch sacken, bevor ich mich mit einem kurzen Zwischenstopp im Hostel auf den Weg zu einer Veggie-Restaurant-Empfehlung mache. Inzwischen ist es dunkel geworden und, ja, das Restaurant liegt etwa 1 km außerhalb von Jardín. Dunkle Feldwege, einsame Fincas, hier und da Hundegebell – schon ein bisschen gruselig. Aber da kommt ein junges Mädel zu mir herangefahren – ohne Licht am Rad! Sie ist Einheimische, möchte zum gleichen Restaurant und freut sich, dass ich uns mit meiner Taschenlampe in der Dunkelheit den Weg beleuchte. Das Restaurant mit alternativem Touch ist chillig, ich schaue über das nächtliche Jardín mit seiner großen Kirche, genieße einen leckeren Gemüsereis … und friere ein bisschen. Wird doch recht frisch hier auf 1.750 m.
Jardín begeistert mich!! So eine lässige, ländliche Atmosphäre! Spontan entscheide ich mich, noch eine Nacht zu verlängern und den Programmpunkt Manizales ersatzlos zu streichen.
Am nächsten Tag treffen wir uns um 9.30 Uhr bei der Agentur für die Tour zur Cueva de Esplendor. Alles in allem kommen etwas sonderliche Touristen hier zusammen. 4 Franzosen – generell introvertiert und kontaktarm, ein gestörter Kanadier – der alles mit seiner Cam dokumentiert, vielleicht für Insta oder YouTube, aber dabei nie irgendeine Regung der Freude zeigt, und die junge Deutsche namens Mandy – würde sagen Typ „verplante Aussteigerin“, die erst Kontakt zu mir aufnimmt, nachdem die anderen sie alle links liegen lassen.

Mit dem Jeep werden wir eine ganze Weile durch die umliegende Bergwelt gefahren. Die letzte 1,5 Stunden müssen wir dann aber selber aufsteigen zur Cueva de Esplendor. Wie immer bei geführten Touren ist das Ganze nicht ganz so abenteuerlich, als wenn ich alleine losziehe.






Der Wasserfall durch das Höhendach ist nicht herausragend spektakulär, aber ein schöner Naturort. Natürlich gehöre ich zu den wenigen Personen, die sich auch wagemutig in den 16-18 Grad kalten Tümpel wagt. Aber auch nur denen ist der Blick durch das Loch nach oben in den grünen Dschungel vorbehalten. Leider habe ich meine Handy-Schutzhülle nicht dabei und kann „den Durchblick“ deshalb nicht wirklich festhalten.







Zurück in Jardín buche ich für meine Weiterreise am übernächsten Tag, einem Montag, den Bus um 8 Uhr nach Riosucio. Die meisten möchten von Jardín weiter bis ins Eje cafetero, deshalb ist der 8 Uhr Bus heiß begehrt und schnell ausgebucht.
Nach der Dusche möchte ich noch aufsteigen zur Cristo Rey Statue, die von überall zu sehen ist und über das Pueblo wacht. Ein Schild für den Wanderweg finde ich nicht und Google Maps schickt mich über die langweilige Forststraße. Da spricht mich ein nettes einheimisches Paar an und zeigt mir den Abstieg und Aufstieg über einen schmalen Pfad durch herrliche Natur.




Oben angekommen hole ich mir eine Limonada de hierbabuena (frische Minz-Limonade) und warte zusammen mit Hasi auf den Sonnenuntergang hinter den 4.000ern der Farallones de Cali. Die Stimmung ist gigantisch – bis – ja bis die kolumbianisch-schweizerische Truppe mit ihren drei Hunden dahergehechelt kommt und sich ohne Unterbrechung lautstark sabbelnd vor der untergehende Sonne positioniert.



Zeit für mich zu gehen. Für den Abstieg wähle ich die weit ausholende Runde über die Forststraße. Wie das nach einem Sonnenuntergang so ist, wird es relativ schnell dunkel und der Weg nach Jardín zieht sich. Irgendwann ist es so duster, dass ich entscheide, meine Taschenlampe aus dem Rucksack rauszukramen. Just in dem Moment, als ich so über meinen Rucksack gebeugt stehe, fährt ein Moto an mir vorbei. 30 m über mir bleibt der Moto-Fahrer stehen, schaut nach mir, kehrt wieder zurück und tuckert langsam an mir vorbei … Alles in mir spannt sich an: Was will der von mir? Und mein Gehirn rattert auf der Suche nach einem wehrhaften Gegenstand, um den Räuber in die Flucht zu schlagen. Ein paar Meter weiter bleibt der Fahrer stehen und ruft mir zu: Alles okay? Brauchen Sie Hilfe? Plumps, da fällt er – der Stein von meinem Herzen. Ich antworte: Nein, nein, alles ist gut. Ich suche mein Licht. Wieder ein tolles, vertrauenerweckendes Erlebnis in einem Land, das hinsichtlich der Kriminalität noch immer einen immens schlechten Ruf hat.
Eigentlich wollte ich an diesem Abend hier oberhalb Jardíns in der Trucheria einkehren, um frische Forelle zu essen. Doch leider hat das Restaurant gerade heute geschlossen. Also steige ich weiter ab bis nach Jardín. Auf der Plaza haben am Samstagabend Verkäufer ihre Stände aufgebaut, die Bars und Lokale sind voll, die Caballeros zeigen ihr Können auf den Caballos de Paso (schaut nicht gesund aus), es ist wie überall in Kolumbien laut.




Zum Essen entscheide ich mich für ein italienisches Restaurant, das mir gestern schon ins Auge gefallen ist. 4-5 Kellner stehen zu meiner alleinigen Verfügung und ich frage mich, ob in der Hochsaison (von der ich dachte, dass sie im Februar bereits anläuft) mehr los ist. Die Penne Bolognese sind etwas schwach gewürzt, aber sonst okay.
Am Sonntag bin ich um 8.30 Uhr schon wieder auf der Plaza. Die ersten Kirchgänger waren schon um 7 Uhr im Gottesdienst und schlürfen jetzt ihren Tinto in der Bar nebenan. Derweil empfängt der Pastor die Gläubigen des 2. Gottesdienstes vor dem Portal. Es ist so schön zu beobachten, wenn alte Pärchen, wie vermutlich schon seit Jahrzehnten, Hand in Hand durch das Kirchenportal zum Gottesdienst schreiten.




Für heute habe ich mir eine Wanderung über den Sendero de las Lechuzas hinauf zur Seilbahn La Garrucha ausgewählt. Maps.me zeigt mir einen ganz tollen schmalen Pfad, auf dem ich durch die grüne Wildnis hinab zum Flussbett laufe, um auf der anderen Seite wieder aufzusteigen.




Ich entdecke Vögel, Schlangen und Eidechsen und passiere Bananen- und Kaffeeplantagen. Schon traurig zu sehen, dass die Bananenstauden schon während des Wachstums in Plastik eingehüllt werden – verkehrte Welt!




Obwohl ich alleine und auch „einsam“ unterwegs bin, fühle ich mich auf den Wegen und Pfaden sehr wohl und sicher – abgesehen von den Hunden, die mich, je einsamer die Fincas liegen, umso lauter und aggressiver von der Seite ankläffen. Meinen Schirm habe ich schon parat und steige weiter den Berg hinauf … bis mich dieses Schild ausbremst:

Okay, nachdem ich nicht wüsste, wem ich hier in Wald und Flur meinen Besuch ankündigen sollte, flößt mir diese Warnung dann doch gehörig Angst ein vor den Bestien, die da eventuell frei rumlaufen. Ich kehre lieber um und folge auf halber Berghöhe dem direkten Weg zur Seilbahn La Garrucha.

Mit dieser Self-made-Seilbahn (die alte Kabine wurde gerade gegen eine neue aus Edelstahl ausgetauscht) kann man herrlich bequem hinterunter nach Jardín sausen … oder eben hinauf. Sie wird von Einheimischen und Touristen gerne genutzt. Ich trinke mit dieser wunderbaren Aussicht einen Tinto und entscheide mich, da es erst 11 Uhr ist, weiter zu wandern.

In einem großen Bogen folge ich meiner maps.me-Karte und finde irgendwann einen einsamen, ausgewaschenen Abstiegspfad, der mich nach 4 Wanderstunden zurück nach Jardín führt.





Auf der Plaza ist an diesem Sonntagnachmittag ganz schön was los. Verkäufer von Obst, Eis und Süßigkeiten haben ihre Stände aufgebaut und viele kolumbianische Tagestouristen flanieren über die Plaza. Dort treffe ich auch Mandy von der Cueva-Tour und wir ratschen eine Weile bei einem Frucht-Milch-Shake.
Nach dem Duschen und Packen tauche ich noch einmal in die Plaza-Gemeinschaft ein, trinke mein geliebtes Colombia negra und probiere dabei die heimische Sitte mit dem Händeklatschen aus. Funktioniert perfekt!
Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass man in Kolumbien an der Bezeichnung Calle oder Carrera unterscheiden kann, in welcher Richtung die Straße verläuft? In jedem Ort, in jeder Stadt werden die schachbrettartig angelegten Straßen durchgezählt: Calles 1, 2, 3 … verlaufen von Süd nach Nord, Carreras 1, 2, 3 von Ost nach West.
